Ein Freitag im Oktober 1988. Ich breche ein wenig aus meinem Semesteralltag aus und fahre mit einem Freund, einem christlichen Musiker, nach Süddeutschland. Viel Zeit zum Erzählen, und im Hintergrund laufen fast unbeachtet die Nachrichten. Plötzlich läßt uns doch eine Mitteilung aufhorchen. Das Grabtuch von Turin sei eine Fälschung aus dem dreizehnten Jahrhundert, so habedie Radiocarbonmethode zur Altersfeststellung des Tuchs gezeigt.. Plötzlich ist das Thema da: Was bedeuten eigentlich solche sichtbare Zeichen für den Glauben, und was ändert sich, wenn sie sich als falsch erweisen? Schnell sind wir uns einig, daß der Glaube an Christus nicht von Tüchern und Bildern abhängig sein kann.
Und doch bleibt das Thema »Grabtuch« für mich präsent. Ich erfahre später, daß gegen die mit großer Öffentlichkeit verkündete Datierung Bedenken erhoben werden. Leinenstoff, der Wetter, Kerzenruß, Händen, Feuer ausgesetzt war, der im Lauf der Geschichte ausgebessert wurde, ist aufgrund dieser Methode nicht mehr sicher zu bestimmen. Dieses geheimnisvolle Tuch, das im Dom von Turin aufbewahrt wird, ist entfaltet vier Meter breit und zeigt den zweifachen Abdruck eines Mannes, Spuren von Blut und Wunden, sowie Brandflecke aus unterschiedlichen Zeiten.
Die Erfindung der Fotografie und die Entwicklung weiterer Wissenschaftsdisziplinen hatten das Abbild als anatomisch und forensisch vollkommen sichere Abbildung eines Gekreuzigten offenbart, auch wenn nicht nachgewiesen werden kann, wie ein derart fotografischer Eindruck auf dem Gewebe entstehen konnte. Weitere Disziplinen kommen den Forschern, die sich weiterhin um das Grabtuch bemühen zu Hilfe: Die Botanik identifiziert Pollen im Gewebe, die nur in einem kleinen Streifen Judäas gemeinsam vorkommen, die Medizin bestätigt alle Symptome eines Erstickungstodes, den der Mann, der in das Tuch gelegt wurde, als Folge von Mißhandlung und Kreuzigung erlitten hat, der historischen Forschung gelingt es schließlich, den wahrscheinlichen Weg des Tuchs von Jerusalem in den Piemont nachzuvollziehen.
Oft las ich die Beschreibung der Beobachtungen der Tuchforscher (Sindonologen) – und war jedesmal zutiefst betroffen. Denn was durch Hilfswissenschaften hier zusammengestellt wurde, war das detaillierte Bild einer Kreuzigung. Der Mann auf dem Tuch wurde qualvoll zu Tode gebracht. In manchem korrigiert diese Abbildung gängige, von der Kunst kolportierte Vorstellungen vom Geschehen der Kreuzigung. So hat die Kunst immer die Male der Nägel in den Handflächen dargestellt. Der Gekreuzigte auf dem Tuch weist hingegen die Wunden an der Handwurzel auf. Die Spuren der Kopfverletzungen zeigen einen Unterschied zur klassischen Darstellung der Dornenkrone. Danach war die Dornenkrone Jesu, gemäß der Form einer Herrscherkrone im Altertum, eine Haube und kein Kranz.
Zu Jahresbeginn erfuhr ich, dass Papst Franziskus eine erneute Ausstellung des Tuchs in Turin angeordnet hatte, wußte ich, daß ich die Gelegenheit. selber vor dem Grabtuch zu stehen und es zu sehen, nicht auslassen wollte. 60 Tage lang, bis zur Schließung der Ausstellung am 24. Juni, bestand täglich die Möglichkeit, einen Moment lang vor dem Tuch zu beten.
Über Pfingsten ergab sich die Gelegenheit. Wir wählten den Weg über die Schweiz und gelangten am Abend des Pfingstsonntags über den verschneiten Julierpass und durch das frühsommerlich prächtige Engadin nach Turin. Die wild wuchernden Vorstädte der Industriestadt vor dem Alpenpanorama machen mich nachdenklich. Sind die Wohnsilos rechts und links der autostrada dem Menschen überhaupt gemäß? Welche Bedeutung hat die Verehrung eines so wichtigen Schatzes der Christenheit für die Hoffnung der eingepferchten Menschen? Ich denke an Papst Franziskus und sein Herz für die Armen. Ein paar Woche später wird er die Ärmsten der Stadt Rom mit päpstlichem Segen als Vorauskommando für sein eigenes Kommen nach Turin schicken.
In Turin nehmen wir uns Zeit für einen ausgiebigeren Stadtbummel, bevor wir zum Heiligtum vorgelassen werden. Die Stadt ist voller Pilger, die nicht nur das Grabtuch besuchen wollen, sondern gekommen sind, um mit den Salesianern den Geburtstag ihres großen Heiligen Johannes Don Bosco zu feiern. Dieser gibt mir eine erste Antwort auf die Frage nach den Armen in unserer Geschichte: Zuwendung zu den Armen … und Vertrauen.
Dann endlich gelangen wir vor das ausgestellte Grabtuch. Ein seltsamer Augenblick, fast wie die Audienz bei einem König, der sich hinter einem Vorhang verborgen hält. Man sieht die Umrisse der Majestät, und ein Zeremonienmeister spricht monotone Begrüßungsworte. Aber nein – in Wirklichkeit stehen wir vor dem Tuch, das in einem gewaltigen Rahmen ausgespannt ist. Es wird kalt beleuchtet, der Raum ist dunkel, alles mit schwarzem Tuch ausgeschlagen. Der Zeremonienmeister ist ein Vorbeter, der jeder Besuchergruppe Gebetsworte – Dank, Lobpreis, Betrachtung, Bitte in den Mund legt. Menschen bleiben stehen, machen Handyphotos, wispern leise. Ich bemühe mich nicht, Details auf dem Tuch zu erkennen. Das kann ich anhand guter Abbildungen immer noch tun. Es ist wie ein inneres Gespräch mit dem Herrn, der – wie hinter dem Vorhang – da ist, und doch nicht da. Sehr nüchtern, ernüchtert fast, verlassen wir wenige Minuten später die Kirche. Ich habe einen großen Moment erlebt, da bin ich sicher, aber die Frage nach der Gegenwart des Herrn löst sich erst danach in der Begegnung mit der Eucharistie. In den gewandelten Gestalten von Brot und Wein ist Er dann selber da. Nicht mehr hinter dem Vorhang, sondern IM Herzen. Ja, es ist ein guter Besuch.
Selbstverständlich werden Zweifel und Anfragen gegen die Hypothese der Echtheit des Grabtuchs von Turin ins Feld geführt. Wer die Spuren der Grabtuchdebatte im Internet verfolgt, stößt auf verhärtete Fronten von Echtheitsbefürwortern und Bestreitern. Doch auch wenn sich alle Befunde als wahr erwiesen, die für die Echtheit sprechen, so wäre das Grabtuch von Turin an sich noch kein Beweis für die Auferstehung Jesu. Es setzt den Glauben an die Osterbotschaft vom leeren Grab voraus. Die Wirklichkeit des Auferstandenen erweist sich nicht an einer Stoffbahn, sondern im Herzen des Menschen, der sich ihm öffnet.
Ich denke an eine Begegnung aus der Passionserzählung des Markus. Bei der Verhaftung Jesu hastet ein junger Mann in wilder Flucht davon. Er war, wie Markus berichtet, mit einem Tuch bekleidet, und dieses Tuch bleibt in den Händen der Häscher zurück, als sie ihn festhalten wollen. Der Junge flieht nackt. Mir scheint dies ein gutes Bild zu sein, auch wenn ich damit die biblische Geschichte überstrapaziere: Wenn mir die relative Sicherheit der vertrauten Zeichen, dessen, was mich im weitesten Sinne bekleidet, verlässt, wenn ich nichts Schmückendes mehr an mir und um mich habe, was mir Schutz oder Ansehnlichkeit gibt, dann bleibt der nackte Glaube.