First Reason: Tante Erna

Sie war in meiner Erinnerung immer da. Und immer schon alt. Denn bei meiner Geburt stand sie bereits in den Sechzigern, hatte im Backfischalter dem Kaiser zugewunken, als dieser pompös die Werke der Familie Krupp in Essen besuchte. Doch auch wenn ich sie nie anders als Tante Erna nannte: Sie war gar keine Verwandte. Vermutlich hatte mein Opa schon in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg den Ratskeller, den sie und ihr Mann, Onkel Rolf, bewirtschafteten, mit Fleisch und Wurst beliefert, was man halt in der Gastronomie so braucht – nun lebten sie als Pensionäre – und es war eine Art Freundschaft entstanden. Tief kann sie nicht gewesen sein, aber immerhin familiär genug, daß er sich wegen ihrer krummen Beine belustigen konnte, natürlich heimlich.

Bis zu dem Tag, an dem der kleine Peter bei einem Besuch, den Tante Erna und ihr Mann im Jagdhaus abstatteten, die kleine, alte Tante betrachtete und empört schrie: »Opa, die Tante Erna HAT ja keine krummen Beine!«

Mein Opa entzog dem kleinen Verräter seine Liebe nicht, aber auch Tante Erna schien mich fortan als ihren Verbündeten zu betrachten. Oder so.

Jedenfalls überschüttete sie mich geradezu mit ihrer Zuneigung, als sei ich ihr eigenes Kind, das ihr nie vergönnt gewesen war. Ich liebte die Fahrten in Onkel Rolfs Ponton-Mercedes aus den fünfziger Jahren mit seinem geheimnisvollen Anlasserknopf. Gemeinsam sangen wir »So ein Tag, so wunderschön wie heute!« und manchmal ließen wir uns mit der Rheinfähre nach Kaiserswerth übersetzen. Und dann gab es noch Onkel Rolfs selbstgemachtes Speiseeis, eine echte Delikatesse mit einem ganz kleinen Schuß Eierlikör. Viel besser als beim Italiener! fügte Tante Erna streng hinzu, wenn sie mir im Biedermeierzimmer meine Portion zuteilte.

In ihrem Schlafzimmer hing das Ölportrait einer dunkelhaarigen, beleibten Dame mit Perlenkette und geblümten Kleid. Irgendwann verstand ich, daß sie selbst diese abweisende Dame war. Natürlich in irgendeinem mythischen Zeitalter weit vor meiner Geburt, bestimmt sieben Jahre oder gar noch mehr.

Tante Erna, die immer alte, wurde steinalt, und auch ihre Beine wurden tatsächlich immer krummer. Meinem Großvater, längst verstorben, wäre dieser Anblick vielleicht eine Genugtuung gewesen. Als Onkel Rolf nicht mehr fahren wollte, schenkte er den Mercedes einem jungen Verwandten, der ihn prompt weintraubengrün lackierte, was Tante Erna ihm sehr verübelte. Dann starb auch Onkel Rolf, und Tante Erna wackelte allein weiter durchs Leben. Energisch und selbstbewußt.

Doch wurden die Besuche bei ihr auch immer anstrengender. Sie verzettelte sich gerne in endlose Genealogien, wenn sie versuchte, mir zu erklären, wer von ihren Bekannten mit wem verwandt sei. Das konnte lange dauern, und in solchen Augenblicken war sie auf nichts anderes anzusprechen. Um einigermaßen damit umgehen zu können, erfand ich Tante Laura. Ungefähr genau so alt wie sie – also vierundneunzig, und politisch ihr exakter Gegenpart, also leidenschaftliche Frauenrechtlerin und SPD-Mitglied seit 1912. Die Erwähnung Tante Lauras genügte, um sie zum Lachen zu bringen und aus ihren Trott zu reißen.

Einmal hat sie mich in unserer Studenten-WG besucht. Mein Mitstudent hatte soeben das riesige, expressive Wandbild »Der Schreiende« im Wohnzimmer aufgetragen. Und die kleine, alte Tante sprach die weisen Worte: »Das muß der Stefan einem Mädchen zeigen, das jünger ist als ich.«

Tante Erna und ihre Spruchweisheiten! »Mit dem Hute in der Hand, kommt man durch das ganze Land« hatte sie mir eingetrichtert und meinte damit, mich zur Höflichkeit erziehen zu müssen. In ihren letzten Jahren trat der Spruch immer wie ein Mantra auf, wenn sie weiter nichts sagen konnte.

Und plötzlich, ein halbes Jahr, bevor sie hundert Lebensjahre hätte vollenden können, kam ich unversehens hinzu, als sie im Sterben lag. Sie erkannte mich noch, und ein Leuchten ging über ihr vertrautes, altes Gesicht. Hut! Hand! Ich versuchte noch, ihr Kissen zu stützen, ihr das Atmen zu erleichtern, dann sank ihr Kopf in meine Armbeuge, ein hundertjähriges Leben endete genau dort.

Einmal, einige Jahre vor ihrem Tod, hatte ich gemeinsam mit ihr auf einer Bank am Rhein gesessen. Sie hatte mir von Kevelaer erzählt, und von dem unglaublich leckeren Honigkuchen, den sie dort im Café gegessen habe. In einem missionarischen Impuls versuchte ich, ihr ein wenig altklug von der Trösterin der Betrübten zu erzählen, aber sie war einfach vollkommen auf die Honigkuchenschiene eingeschworen. Nichts zu machen, dachte ich. Da fiel mein Blick auf einen gemächlich rheinauf ziehenden Kohlefrachter, einer von vielen. Doch sein Name war Erna-Maria.


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